Noten sind schädlich.
Noten haben keine unterstützende Funktion für das Lernen und sie geben keinerlei Aufschluss, was die Schüler:in gelernt hat und wo man als nächstes ansetzen sollte, um sie bei ihrem Lernprozess zu fördern. (Winter 2015, S. 174)
Noten schränken die Kreativität beim Lernen ein und führen dazu, dass die Schüler:innen weniger Risiken eingehen, sich für einfachere Aufgaben entscheiden und versuchen, bei Prüfungen zu betrügen. (Kohn in: Blum 2020, S. 11)
Noten ersticken die natürliche Neugierde, die die Schüler:innen in unseren Unterricht mitbringen. Falls bis dann noch etwas davon übrig ist. (Feldman 2019, S. 65)
Sie geben ausschliesslich extrinsische Anreize, die motivieren können, aber nur dann, wenn man bei einer Leistungserhebung auch eine gute Note erhalten hat. Wer in einem Fach wiederholt ungenügende Noten erhält, wird unweigerlich irgendwann abhängen. Sie erhalten einen strafenden Charakter, mit dem man die Schüler:innen dazu bringen kann, Dinge zu tun, die sie selbst eigentlich nicht wollen. Natürlich finden das einige Lehrpersonen auch wünschenswert. (Nölte & Wampfler 2021, S. 33)
Noten haben einzig die Funktion, die Leistung der Lernenden in eine willkürliche Reihenfolge zu bringen. Dies führt zu einer Denkweise, in der eine Leistung nur dann einen Wert hat, wenn sie höher bewertet wird, als die Leistung einer anderen Person. (Feldman 2019, S. 93)
Der einzige Nutzen, der aus dem Ranking der Schüler:innenleistung gewonnen werden kann, besteht darin, dass Entscheidungen zur Selektion getroffen werden können. Sie haben also einen administrativen Nutzen, der uns Lehrpersonen aber kaum behilflich ist, die Schüler:innen bei ihrem Lernen zu unterstützen. Und das sollte unsere Kernaufgabe sein. (Stommel 2021)
Trotzdem sind wir in einem System gefangen, in dem wir Noten geben müssen.
In den USA hat sich in den letzten 20 Jahren eine Bewegung entwickelt, die es sich auf die Fahnen geschrieben hat, Noten aus den Bewertungen von Leistungserhebungen ganz zu entfernen oder so zu reduzieren, dass ihre schädliche Wirkung so wenig wie möglich auf das Lernen der Schüler:innen einwirkt. Ungrading ist das Schlagwort, das von den Dächern gepfiffen wird. Dies ist zwar immer noch eine Randerscheinung einer sogenannten «progressive» Pädagogik, doch gewann die Idee in den letzten Jahren immer mehr an Fahrt, so dass auch jenseits des Atlantiks über «Eine Schule ohne Noten» (Nölte & Wampfler 2021) diskutiert wird.
Für die meisten von uns, die wir an staatlichen Schulen mit sehr klaren reglementarischen und gesetzlichen Vorgaben gezwungen sind, Noten zu setzen, bleibt diese Idee des Ungrading ein utopischer Traum. Ich muss ja Noten setzen und davon nicht wenige.
Hier kommt die Idee von Guerilla Ungrading ins Spiel.
Guerilla Ungrading verfolgt das Ziel, alle (legalen) Wege und Mittel zu nutzen, um die schädliche Wirkung von Noten zu untergraben. Wenn ich möchte, dass die Schüler:innen sich auf die Qualität ihrer Arbeit und die Entwicklung ihres Lernwegs konzentrieren und nicht darauf, welchen Platz sie in der Klassenrangliste einnehmen, muss ich alle Optionen innerhalb eines juristischen Systems ausloten, um die Bedeutung der Noten für die Schüler:innen zu hinterfragen, abzuschwächen und zu entwerten.
Dazu muss aber nicht der ganze Unterricht, die Bewertungsmethoden und die Art der Leistungserhebungen umgekrempelt werden. Vielmehr kann man schon mit einfachen Kniffen und Methoden beginnen, den Wert, der die Note in den Köpfen der Schüler:innen hat, auszuhöhlen. Guerrilla-Style.
Im Folgenden wird in einfachen Schritten erläutert, wie der lange Weg zu einem utopischen Ungrading beschritten werden kann. Jeder Schritt wird in einem separaten Blogpost im Detail erläutert.
Dies sind meine acht Gebote des Guerilla Ungrading:
- 1. Rede mit den Schüler:innen über Noten
- 2. Lass die Schüler:innen bei der Benotung mitreden
- 3. Sei dir bewusst, dass du nicht objektiv benotest
- 4. Gib so wenig Noten wie nötig
- 5. Benote nur, wenn das Lernen wirklich abgeschlossen ist
- 6. Lass die Schüler:innen zeigen, was sie können
- 7. Lass dich nicht aus der Ruhe bringen
- 8. Scheitere mit Stil …und versuchs nochmal
- Literatur
1. Rede mit den Schüler:innen über Noten
Wir können die Wirkung von Noten nur dann wirklich erfassen, wenn wir die Perspektive der Schüler:innen einnehmen. Der einfachste Schritt hierzu ist, mit ihnen über Noten zu reden. Es lohnt sich, sich dafür Zeit zu nehmen und den Schüler:innen Raum zu geben, sich frei zu äussern und zu veranschaulichen, welchen Effekt Noten auf ihr Wohlbefinden und auf ihre Bereitschaft zu lernen haben. Dies schafft eine Grundlage, mit der wir beginnen können, unsere Notenpraxis zu hinterfragen und sukzessive zu verändern. Mehr
2. Lass die Schüler:innen bei der Benotung mitreden
Noten sind Ausdruck eines Machtgefüges zwischen Lehrpersonen und Schüler:innen. Die Schüler:innen sind bei der Bewertung unseren Regeln und Launen ausgesetzt. Wir können den Schüler:innen jedoch einen Spielraum geben, in dem sie sich bei der Benotung einbringen können. Wenn sie die Möglichkeit erhalten, auszuwählen, was benotet wird oder welche Kriterien bei der Bewertung eingesetzt werden, ist dies ein erster Schritt, wie sie Verantwortung für ihr Lernen übernehmen können und bedeutet für uns, ein Stück der Kontrolle abzugeben. Mehr
3. Sei dir bewusst, dass du nicht objektiv benotest
Unsere Bewertungen von Schüler:innenleistungen sind keineswegs objektiv und unterliegen Wahrnehmungsverzerrungen. Diese Befangenheit lässt sich nur schwer von der Notengebung trennen, aber es kann helfen, sich dessen bewusst zu sein. Dies ermöglicht es uns, Schritte zu unternehmen, um die individuelle Notengebung fairer zu gestalten. Das Weglassen der Mitarbeitsnote und das Anonymisieren der Korrekturen können uns dabei behilflich sein. Mehr
4. Gib so wenig Noten wie nötig
Wir haben kaum einen Vorteil, wenn wir möglichst viele Noten im Verlauf eines Semesters erheben. Schliesslich werden diese Noten für die Zeugnisnote mit einem Durchschnitt zusammengerechnet. Dies ergibt eine sehr ungenaue und unzuverlässige Zahl, die uns wenig Aufschluss über den Lernerfolg der Schüler:innen gibt. Die Höhenflüge und Abschiffer werden dabei einfach nivelliert. Abgesehen davon haben die Schüler:innen keinen wirklichen Nutzen, wenn wir mehr Noten erheben. Sie wissen lediglich, wie gut sie im Vergleich mit ihren Klassenkamerad:innen sind. Darum macht es für uns Sinn, die Anzahl der Noten so klein zu halten wie nötig. Dazu müssen wir den juristischen Rahmen kennen. Zusätzlich können wir mit Streichnoten, alternativen Berechnungsmodi oder unbenoteten Leistungsbeurteilungen die Anzahl der Noten reduzieren. Mehr
5. Benote nur, wenn das Lernen wirklich abgeschlossen ist
In dem Moment, wo wir eine Note unter eine Schüler:innenarbeit setzen, ist das Lernen für die Schüler:innen abgeschlossen. In der Regel erhalten sie keine Möglichkeit, ihre Leistung zu verbessern, sondern lernen, dass Fehler mit Abzügen bestraft werden. Dem können wir entgegenwirken, indem wir Überarbeitungen erlauben und Prüfungen als Instrument sehen, den Lernfortschritt zu erfassen, ohne eine Note zu geben. Zusätzlich können wir die Schüler:innen mit Feedback unterstützen. Dies wirkt aber nur, wenn wir ihnen die Möglichkeit geben, es umzusetzen und wenn es nicht zusammen mit einer Note gegeben wird. Mehr
6. Lass die Schüler:innen zeigen, was sie können
Mit dem Schwierigkeitsgrad der Fragen, der Punktevergabe und der Berechnung der Note, können wir in einer Prüfung steuern, wie hoch ein Notenschnitt ausfällt. Umgekehrt haben wir aber auch die Möglichkeit, unseren Schüler:innen eine Umgebung für Leistungsnachweise zu bieten, in der sie ihr Können und Wissen demonstrieren können. Dazu sollten wir auf Zeitdruck oder das Bestrafen von Fehlern mit unnötigen Abzügen verzichten. Stattdessen können wir den Schüler:innen den Raum geben, selbst Themenfelder auszuwählen und Produkte zu erstellen, anstatt sie Prüfungen schreiben zu lassen. Dies ermöglicht es den Schüler:innen, sich auf den Prozess ihres Lernens zu konzentrieren und ihre Leistungen schrittweise zu verbessern. Mehr
7. Lass dich nicht aus der Ruhe bringen
Guerilla Ungrading ist ein steiniger Weg. Wir müssen uns darauf gefasst machen, dass wir mit Hindernissen, Widerstand und Rückschritten konfrontiert werden. Dies ist aber kein Grund aufzugeben. Es gibt gute Argumente, wie wir unsere Notenpraxis begründen können und warum wir einem impliziten Selektionsdruck widerstehen wollen. So entwickeln wir Haltungen, die uns im Umgang mit anderen Lehrpersonen, aber auch den Vorbehalten der Schüler:innen stärken können. So können wir eine souveräne Position einnehmen, anstatt aus einer Defensive heraus zu argumentieren. Mehr
8. Scheitere mit Stil …und versuchs nochmal
Wenn wir beginnen, unsere Notengebung zu verändern, befinden wir uns in hoch experimentellen Gefilden. Es gibt viele Variablen bei der Umsetzung, die nur schwer antizipiert werden können. Dass hier nicht alles beim ersten Mal klappt, versteht sich von selbst. Dies ist aber kein Grund, das Handtuch zu schmeissen. Vielmehr können wir solche Herausforderungen als Lernmöglichkeit anschauen, um unsere Praxis weiterzuentwickeln. Hier berichte ich von meinem Scheitern beim Ungrading und den Lehren, die ich daraus gezogen habe. Mehr
Literatur
Wampfler, Philippe & Nölte, Björn (2020). Eine Schule ohne Noten. hep Verlag, Bern.
Wiliam, D. & Leahy, S. (2015). Embedding Formative Assessment. Learning Sciences International.
Feldman, J. (2019). Grading for Equity - What it is, Why it maters and How I can Transform Schools and Classrooms. Corwin, Thousand Oaks.
Clark, David & Talbert, Robert (2024). Grading For Growth. Routledge.
Sackstein, S. (2015). Hacking Assessment: 10 Ways to Go Gradeless in a Traditional Grades School. Times 10 Publications.
Inoue, Asao B. (2019). Labor-Based Grading Contracts. The WAC Clearinghouse.
Winter, Felix (2015). Lerndialog statt Noten. Beltz, Weinheim und Basel.
Schneider, Jack & Ethan L. Hunt (2023). Off The Mark. Harvard University Press.
Nilson, Linda (2014). Specification Grading - Restoring Rigor, Motivating Students, and Saving Faculty Time. Routledge, New York.
Stommel, Jesse (2023). Undoing the Grade. Hybrid Pedagogy, Denver.
Blum, Susan D. (2020): Ungrading - Why Rating Students Undermines Learning (and what to do instead). West Virginia University Press.
Blog | Weiterbildungen | SELF | Guerilla Ungrading | Projektbasierter Unterricht | About
© Lukas Pfeifer, 2025