Eine summative Bewertung, also die Setzung einer Note in Form von Ziffern oder Buchstaben, ist immer der Abschluss des Lernens (Winter 2015, S. 88). Aus der Sicht der Schüler:innen ist es der Moment, an dem man die mühsam reingekramten Franzi-Vokabeln wieder in die Obskurität entlassen kann, aus der sie gekommen sind. So werden Noten zu einem Reset-Button, der den Schüler:innen signalisiert, dass jetzt Platz für Neues gemacht werden soll und mit dem das Gelernte wieder überschrieben werden kann. Das angehäufte Wissen der vergangenen Einheit kann jetzt zurückgelassen werden. Es gibt keinen Grund, nochmals dorthin zurückzukehren. Ausser natürlich, es gibt nochmals eine Note.
Wenn Lernen ein kontinuierlicher Prozess sein soll, dann muss den Schüler:innen in diesem Prozess Raum gegeben werden zu wachsen. Dies setzt zwei Dinge voraus: Erstens die Schüler:innen dürfen Fehler machen, ohne dafür (mit einer Note) bestraft zu werden und zweitens die Schüler:innen müssen Feedback erhalten, das ihnen hilft, sich weiterzuentwickeln (Nölte & Wampfler 2021, S. 78).
Dies lässt sich im projektbasierten Unterricht, wo ein Produkt oder ein Text über einen längeren Zeitraum hin entwickelt wird, besonders gut umsetzen. In diesem Prozess sollten nur dann Punkte oder gar eine Note gegeben werden, wenn die Arbeit ganz abgeschlossen ist und die Schüler:innen keine Möglichkeit mehr haben, Verbesserungen vorzunehmen. So erhalten sie einen geschützten Rahmen, in dem sie Fehler machen und daraus lernen können. Sobald ich Noten in diesen Lernprozess einführe, bin ich gezwungen, ihre Fehler zu ahnden. Den Schüler:innen wird suggeriert, in Zukunft Fehler und damit auch Risiken zu vermeiden. Gleichzeitig hat meine Rückmeldung nur wenig Wert für die Schüler:in. Mit der Vergabe der Note hat sie nun keine Möglichkeit mehr, sich zu verbessern. Im Gegenteil, mit der Vergabe der Note hat ihre Leistung nun einen fixen nominellen Wert erhalten. Die Arbeit wird abgestempelt und kann ad acta gelegt werden. Deshalb soll keine Note gesetzt werden, solange die Schüler:innen noch am Lernen sind (Kohn 1994, S. 41).
- Nutze Prüfungen als Rückmeldung, nicht zur Notengebung
- Erlaube Redos und Retakes
- Gib Feedback aber noch keine Note
- Gib kein Feedback zusammen mit Noten
Nutze Prüfungen als Rückmeldung, nicht zur Notengebung
Das muss aber nicht heissen, dass im Verlauf des Lernprozesses gar keine Prüfungen gemacht werden sollen. Wie bereits im 4. Gebot erläutert, können Low-Stakes- oder gar No-Stakes-Tests genutzt werden, um einen Einblick in den Lernstand zu erhalten. Wie der Name sagt, soll der Bewertungsdruck dabei niedrig gehalten werden. Solche Tests sollen lediglich einen aktuellen Lernstand erfassen. Dazu muss aber keine Note gegeben werden. Vielmehr geben sie mir Hinweise, wie ich meinen Unterricht weiter gestalten kann und was unter Umständen nochmals vermittelt werden muss. Besonders wirksam sind solche No-Stakes-Erhebungen, wenn die Schüler:innen die Gelegenheit erhalten, ihre Prüfung oder ihr Produkt selbst zu korrigieren und Rückschlüsse auf ihr weiteres Lernen zu ziehen. Wir erinnern uns an den Hypercorrection-Effekt aus dem 4. Gebot.
Erlaube Redos und Retakes
Wenn wir eine positive Fehlerkultur fördern wollen, haben wir mit Redos und Retakes weitere Mittel zur Hand. Die Idee hinter diesen Begriffen ist, dass die Schüler:innen die Möglichkeit erhalten, bereits abgelegte Prüfungen oder Leistungsnachweise zu überarbeiten. Redos beziehen sich dabei auf abgegebene Leistungsnachweise und Retakes auf abgelegte Prüfungen (Feldman 2019, S. 175). Mit dieser Praxis erlauben wir den Schüler:innen sich konstruktiv mit ihren Fehlern auseinanderzusetzen. Auch wird der Leistung ihre finale, abschliessende Signalwirkung genommen. Zusätzlich werden die Schüler:innen als Teilnehmer:innen in der Leistungsbeurteilung wahrgenommen und erhalten ein authentisches Mitwirkungsrecht, das dazu führt, sich auf bessere Leistung zu konzentrieren und nicht auf das wertende Label der Note.
Das soll nicht heissen, dass die Schüler:innen dazu ermutigt werden sollen, sich keine Mühe zu geben. Vielmehr sollen die Schüler:innen durch diese Praxis ermutigt werden, ihr Bestes zu zeigen, ohne die lähmende Angst, für Fehler bestraft zu werden. Das Redo ist dabei lediglich ein Werkzeug, den Schüler:innen zu zeigen, dass das Lernen nach einer abgelegten Leistung noch nicht abgeschlossen ist und durch eine Überarbeitung oder einen erneuten Anlauf noch vertieft wird. Der Einwand, dass eine solche Praxis arbeits- und zeitaufwändig sein kann, ist durchaus berechtigt. Nicht jede Leistung oder Prüfung eignet sich für ein Redo, was uns aber auch wieder zum Schluss bringen kann, dass nicht jede Prüfung mit einer Note versehen werden muss.
Gib Feedback aber noch keine Note
Wie eingangs erwähnt, erachte ich diese Praxis von Redos als besonders wirksam in einem projektbasierten Lernprozess, in dem die Schüler:innen zum Beispiel einen Text über mehrere Entwürfe entwickeln sollen. Wenn die Schüler:innen sich über längere Zeit einem Thema widmen und über die Erstellung mehrerer Entwürfe auf ein finales Produkt hinarbeiten, hilft ihnen eine Punktsetzung im laufenden Projekt, die ihnen den aktuellen Leistungsstand signalisiert, nur wenig.
Ich bin bei Projekten dazu übergegangen, einen weit fortgeschrittenen Entwurf eingehend zu beurteilen und mit Feedback zu versehen. Danach erhalten die Schüler:innen Zeit, um diesen zu überarbeiten. Die Veränderungen werden im Text kenntlich gemacht (z.B. im Überprüfen-Modus von Word), so dass ich auf einen Blick sehe, was verbessert wurde. Erst nach dieser Überarbeitung setze ich eine Note. Ich gebe nach der Beurteilung des Produkts bewusst noch keine Punkte oder Zwischennote, weil ich verhindern will, dass die Schüler:innen auf Punktejagd gehen und sich nur darauf konzentrieren, ihre Note zu verbessern.
Gib kein Feedback zusammen mit Noten
Der Umkehrschluss der obigen Erkenntnis lautet: Wenn Feedback zusammen mit einer Note gegeben wird, verliert es seine formative Wirkung. Eine Rückmeldung bringt Schüler*innen im besten Fall dazu, ihren bisherigen Weg konstruktiv zu hinterfragen, sich mit Missverständnissen auseinanderzusetzen und korrigierend ihre Leistungen anzupassen.
Nichts davon ist möglich, wenn wir zusammen mit dem Feedback eine Note geben. In diesem Fall wird das Feedback oftmals gar nicht gelesen oder als Rechtfertigung der Bewertung gesehen. Und wenn wir ehrlich sind, ist dies ja auch die Funktion einer solchen Rückmeldung. Wir wollen, dass sie sehen, was sie alles falsch gemacht haben, damit wir nachher nicht nochmals über die Note diskutieren müssen.
Das heisst also, gib so viel Feedback wie möglich, so dass das Produkt so gut wie möglich wird. Wenn aber die fertigen Produkte im Kasten sind, dann werden nur noch Punkte oder eine Note gesetzt, ohne diese weiter zu kommentieren. Die Kommentare erhalten sie ja bereits im Verlauf des Lernprozesses.
Blog | Weiterbildungen | SELF | Guerilla Ungrading | Projektbasierter Unterricht | About
© Lukas Pfeifer, 2025