Noten haben unterschiedliche Funktionen für uns Lehrpersonen. Sie ermöglichen es uns, die Leistungen der Schüler:innen in Zahlen zu fassen, tabellarisch festzuhalten und so Leistungsrankings der Klasse zu erstellen. Die gerundeten Zeugnisnoten geben uns einen vagen Quervergleich und präsentieren uns Werkzeuge für die Selektion. Noten sind für uns Lehrpersonen selten an starke Emotionen gekoppelt. Sie sind ein notwendiges Übel, das zu unserem Job gehört.
Für die Schüler:innen sieht dies aber ganz anders aus. Die Schüler:innen stehen in diesem quasi-kapitalistischen System am empfangenden Ende. Sie erhalten die Noten zwar für eine erbrachte Leistung, doch bleibt die Vergabe oft intransparent. Die Form der Leistungserhebung, die Kriterien und die Benotung werden von uns diktiert. Die Schüler:innen können kaum partizipieren. Sie müssen sich arrangieren. Deshalb ist es umso wichtiger, mit ihnen über die Wirkung von Noten zu sprechen und ihre Anliegen dabei ernst zu nehmen.
- Eröffne einen Dialog über Noten
- Hör den Schüler*innen zu
- Nimm die Anliegen der Schüler*innen ernst
- Rede auch mit anderen Lehrpersonen über Noten
Eröffne einen Dialog über Noten
Wenn wir verstehen wollen, wie sich die Notengebung auf die Schüler:innen auswirkt, können einfache Fragen helfen, den Dialog zu eröffnen:
- Welche Bedeutung haben Noten in Ihrem Schulalltag?
- Wie wirken sich Noten auf Ihr Wohlbefinden aus?
- Wie oft denken Sie an Noten, wenn Sie eine Prüfung lernen?
- Wie wirken sich Noten auf den Aufwand aus, den Sie bereit sind, in ein Schulfach zu investieren?
- Was müsste gegeben sein, damit sie sich auch ohne Noten intensiv mit den schulischen Themen auseinandersetzen würden?
Es ist auch möglich, die Schüler:innen eine These zu den Noten diskutieren zu lassen. Diese offene Art von Fragestellung kann sehr ergiebig sein, um ihre Erfahrungen zu triggern.
Oftmals braucht es für ein Gespräch über Noten keinen besonderen Anlass, schliesslich sind so viele Bereiche unseres Unterrichts mit Noten verbunden. Eine Diskussion über Noten kann an die Lernziele geknüpft werden oder am Ende eines Semesters erfolgen, wenn man gemeinsam zurückschaut. Man kann auch auf Aussagen von Schüler:innen eingehen, die sie am Rande einer Stunde zu Noten äussern, z.B. “Müssen wir das lernen?” oder “Gibt das eine Note?”.
Hör den Schüler*innen zu
Egal aus welchem Anlass und mit welcher Fragestellung man das Thema Noten mit den Schüler:innen angeht, wichtig ist, sich die Zeit zu nehmen, um ihnen zuzuhören. Die Schüler:innen sollen Raum erhalten, sich zu äussern und zu veranschaulichen, welchen Effekt Noten auf ihr Wohlbefinden und ihre Bereitschaft zu lernen haben. Noten sind ein integraler und hoch emotionaler Teil ihrer Schulerfahrung und sie haben erstens viel zu erzählen und zweitens ist Unterrichtszeit, die ich für den Austausch zur Verfügung stelle, eine zusätzliche Wertschätzung ihrer Erfahrungen.
Als ich zum ersten Mal gezielt mit einer Klasse über Noten gesprochen habe, war ich vom Ausmass und vor allem von der Vielfalt ihrer Anekdoten erstaunt. Hier ist nur ein kleiner Einblick in die Voten der Schüler:innen:
- Aus der Sicht vieler Schüler:innen sind Noten der alleinige Zweck des Lernens an der Schule. Durch ihre simultan belohnende und bestrafende Wirkung wird jede schulische Leistung, die nicht benotet wird, als unwichtig oder sogar unnötig abgewertet.
- Noten erzeugen seit der Primarschule einen Druck, viel Stoff reinzupressen, nur um einige Wochen später wieder Platz zu machen für die nächste Ladung. Der Sinn des Lernens gerät dabei völlig in den Hintergrund.
- Dieser Druck erzeugt einen andauernden Stress und entwickelt sich bei manchen Schüler:innen zu einer starken emotionalen Belastung. Dies kann zu depressiven Symptomen führen.
- Gute Noten werden unter Schüler:innen mit Intelligenz gleichgesetzt. Es kann motivierend wirken, wenn man gute Noten erhält. Wenn nicht, ist es eine andauernde Bestätigung, dass man weniger wert ist in unserer auf Bildung fokussierten Gesellschaft. Dies schlägt aufs Gemüt und senkt das Selbstwertgefühl.
- Noten sind eine Währung, für die vieles getan wird, aber auch alle erdenklichen Abkürzungen genommen werden. Diese Währung ist im Schulalltag so allgegenwärtig, dass sie die individuellen Lernerfahrungen um ein Vielfaches überschattet.
Nimm die Anliegen der Schüler*innen ernst
Bei einem fruchtbaren Gespräch über Noten müssen wir uns von unserer Rolle als notengebende Person lösen. Hier kann es hilfreich sein, wenn wir uns an die eigene Schulzeit und unseren Prüfungsstress zurückerinnern. Was hätten wir uns von unseren Lehrpersonen gewünscht, wenn es um die Bewertung unserer Leistungen ging.
Dies kann uns helfen, eine Umgebung zu schaffen, in der die Schüler:innen sich offen über Noten äussern können. Dazu gehört auch, dass wir ihnen zuhören, ohne dass wir ihre Aussagen persönlich nehmen. Wir müssen vermeiden, in eine defensive Rolle zu rutschen oder die Aussagen der Schüler:innen zu relativieren. Hier kann es helfen, wenn wir uns an unsere eigene Schulzeit und unseren Prüfungsstress zurückerinnern. Nur so werden die Schüler:innen sich trauen, auch wirklich ihre Position darzulegen.
Zusätzlich können wir ihre Voten auch sammeln, entweder an der Tafel oder als Notizen für uns. Dies erhöht den Fokus und kann dem Gespräch eine Struktur verleihen. Darüber hinaus ist das Festhalten ihrer Argumente eine Wertschätzung ihrer Erfahrungen und signalisiert ihnen, dass das Thema noch nicht abgeschlossen ist.
Rede auch mit anderen Lehrpersonen über Noten
Die Bewertung von Leistungserhebungen erfordert erhebliche Anstrengungen, Geduld, Ausdauer und Nerven. Den wenigsten fällt diese Aufgabe leicht. Für uns Lehrpersonen sind die Noten ein Stressfaktor, weil wir wissen, dass wir nicht nur bewerten, sondern diese Wertungen nachher auch überreichen und rechtfertigen müssen. Nicht selten sind Konflikte vorprogrammiert. Kein Wunder also, dass die Noten einen grossen Raum in unserer täglichen Arbeit einnehmen.
Seit unserer Kindheit wurden wir in diesem System sozialisiert. Wir haben selbst erlebt, welche Wirkung die Noten entfalten können. Vielleicht mit dem Vorbehalt, dass wir als Lehrpersonen wahrscheinlich positive Erfahrungen mit Noten gemacht haben. Wenn wir 12 Jahre Schule und ein Studium erfolgreich hinter uns gebracht haben, waren die Noten mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Motivator und ein Teil unseres Erfolgs.
So fällt es vielen Lehrkräften schwer, sich in die Situation von den Schüler:innen zu versetzen, die nur mit sehr grosser Mühe die erforderlichen Leistungen erbringen und regelmässig mit der demotivierenden Wucht von schlechten Noten konfrontiert sind. Umso wichtiger ist es, in Gesprächen mit unseren Kolleg:innen auch die Seite der Schüler:innen aufzuzeigen. In einem weiteren Schritt kann man generell auf die willkürliche Natur der Notengebung eingehen. Dabei lohnt es sich, jeweils von der eigenen Erfahrung auszugehen.
Ein guter Start ist es, das eigene Unbehagen gegenüber der Notengebung zu äussern und dabei aber nicht die Schuld bei faulen und hinterhältigen Schüler:innen zu suchen, sondern bei den Noten selbst. Folgende Aussagen können ein Ausgangspunkt für ein Gespräch über Noten sein.
- “Es nervt, die Schüler:innen immerzu bewerten zu müssen.”
- “Ich habe das Gefühl, dass die Noten den Schüler:innen kaum helfen, ihren Lernstand zu erkennen.”
- “Ich glaube, meine Notenvergabe ist immer ein wenig willkürlich.”
- “Ich wünschte, ich könnte Leistungen zurückgeben, ohne eine Note darunter zu setzen.”
Das Ziel ist es nicht, unsere Kolleg:innen zu belehren oder von unserer Sicht zu überzeugen, sondern alternative Narrative zu bieten, inwiefern wir mit der Willkür und Ungenauigkeit der Notengebung hadern und welche Wirkung Noten bei den Schülerinnen entfalten. Solche Gespräche sind aber nicht immer einfach. Für den Umgang mit kritischen Fragen und Kommentaren findet sich im 7. Gebot ein kleines Argumentarium.
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© Lukas Pfeifer, 2025