Der Weg zum Ungrading ist lang und steinig. Wir müssen uns darauf einstellen, dass wir an verschiedenen Stellen Widerstand, Hindernisse und Rückschritte antreffen werden. Als Guerilla Ungrader:innen sind wir uns bewusst, dass wir einen Kampf gegen Windmühlen führen, solange wir in einem System arbeiten, in dem die Noten der zentrale Ankerpunkt für das Lernen unserer Schüler:innen sind. Hier ist es wichtig, sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen.
Die praktische Umsetzung ist aber nicht die einzige Herausforderung auf unserem Weg. Wenn wir uns mit unseren Kolleg:innen über unsere Absichten und Versuche unterhalten, werden wir schnell auf Skepsis stossen. Dafür müssen wir uns mit überzeugenden Argumenten rüsten, um Vorbehalte zu parieren und entkräften zu können. Ein solides Argumentarium dient uns dabei, unsere Position zu stärken und hilft uns eine Haltung zu entwickeln, die uns bei einer neuen Notenpraxis leitet.
Skepsis werden auch Schüler:innen aufbringen, die seit der Primarschule gelernt haben, für ihre Leistungen mit Punkten bewertet zu werden. Ihnen gegenüber reichen gute Argumente nicht aus. Zusätzlich hilft es, eine Lernumgebung aufzubauen, in der sie sich trauen, Fehler zu machen, ohne dass sie mit einer Note abgemahnt werden.
- Antizipiere kritische Argumente
- Lass dich nicht von den Wünschen der Schüler*innen nach ständiger Benotung einnehmen
Antizipiere kritische Argumente
Wenn wir beginnen mit anderen Lehrpersonen über unsere Notenpraktiken zu sprechen und dabei die gängige summative Benotung hinterfragen, werden wir voraussichtlich mit Unverständnis und offener Kritik konfrontiert werden. Lehrpersonen wie Schüler:innen sind in ihrer Karriere zu einem Mindset sozialisiert worden, in der die disziplinierende Wirkung der Noten gegeben ist. Die Notengebung ist dermassen mit dem Selbstverständnis beider Gruppen verwoben, dass es schwerfällt, sich davon zu lösen. So ist es aber auch nicht schwierig, vorauszusehen, mit welchen Argumenten hantiert wird. Hier ist eine Auswahl von gängigen Argumenten:
In einem traditionell geführten Unterricht mögen diese Behauptungen stimmen. Solange die Schüler:innen für alle ihre erbrachten Leistungen benotet werden und dies der einzige Lohn für ihre Mühen ist, werden sie Schwierigkeiten haben, das Lernen als eigentliches Ziel ihrer schulischen Ausbildung zu erkennen. Wenn ich nur belohnt werde, wenn mir eine Leistung abverlangt wird, stellt sich schnell die Frage, wie viel ich bereit bin zu machen, um eine gewisse Anzahl an Punkten zu ergattern. Es macht in dieser Situation Sinn, dass ich mir als Schüler:in überlege, wie ich mit geringerem Aufwand zu Punkten komme. Als Teilnehmer:in in einem System, das nur auf extrinsische Motivation angelegt ist, ist es schwierig, den Sinn darin zu sehen, mehr zu tun als das Minimum. Darüber hinaus werde ich kaum Risiken eingehen, um Fehler zu machen. Diese werden ja immer mit Abzügen abgemahnt.
Wenn wir anstreben, die Notenvergabe zu verändern, den Schüler:innen Möglichkeiten zu Überarbeitung geben und unsere Prüfungen so gestalten, dass die Schüler:innen zeigen, was sie können, schaffen wir einen Raum, in dem die Schüler:innen, sich mit den Qualitäten ihrer Leistung auseinandersetzen können. Wenn wir ein Bewusstsein schaffen, in dem die Schüler:innen keine Angst vor Fehlern haben, werden sie bemüht sein, wirklich auch etwas abzuliefern, auf das sie stolz sein können. In so einem Umfeld ist die Note nicht mehr nötig. Im Gegenteil, sie steht einem selbstbestimmten und fehlerfreundlichen Lernprozess im Weg.
Eine Kernfunktion von Noten ist die Vergleichsmöglichkeit mit anderen Schüler:in. In dieser Hinsicht stimmt die Aussage natürlich. Anhand der Note wissen die Schüler:innen tatsächlich, wie gut sie sind, allerdings nur in Bezug auf ihre Klassenkamerad:innen. Die Note schafft schließlich ein Ranking, in das sich jede Schüler:in zwangsweise einreihen muss. Sie weiss, dass sie schlechter ist als einige, aber zum Glück auch besser als andere (zumindest alle bis auf eine). Je nachdem, wo sie sich in dieser Reihenfolge befindet, vermittelt dies ein gutes oder ein schlechtes Gefühl.
Diese vermeintliche objektive Erkenntnis ist trügerisch. Abgesehen von der Note, habe ich kaum Hinweise darauf, wie ich besser oder schlechter bin als andere. Sie gibt keine Hinweise auf spezifische Stärken oder Defizite, oder darauf, welche Kompetenzen ich bereits erreicht habe und welche noch mehr Einsatz benötigen. Die Note ist lediglich ein abschliessendes, wertendes Urteil, das nur sehr wenig mit dem Stand im eigenen Lernprozess zu tun hat.
“Solche Experimente führen zu einer Noteninflation.”
Bereits der Begriff “Noteninflation” offenbart die Willkür unseres Notensystems. Im Kanton Basel-Stadt sind Lehrpersonen angewiesen, die Notendurchschnitte zwischen 4 und 5 zu halten. Abweichungen nach unten oder oben müssen an der Zeugniskonferenz vor der Schulleitung gerechtfertigt werden. Die Forderung setzt also implizit voraus, dass wir unsere Notengebung so steuern können, damit der Durchschnitt der einzelnen Erhebungen auch wirklich in den gewünschten Bereich fällt. Die Erwartung an sich geht also davon aus, dass Noten gezielt generiert werden können und somit kaum objektiv sein können.
Trotzdem kann die Anforderung eines Notenbands uns schnell in eine defensive Position bringen. Wenn wir Guerilla Ungrading betreiben, muss das nicht zwingend bedeuten, dass wir höhere Notenschnitte haben, aber es kann. Schliesslich ist mein Notendurchschnitt ein Produkt meiner Lernbegleitung. Wenn ich meine Schüler:innen bei ihrem Lernen unterstütze, ihnen die Möglichkeit gebe, ihre Leistungen zu verbessern und nicht jede Erhebung benote, wird sich dies auch in ihren Noten widerspiegeln.
Lass dich nicht von den Wünschen der Schüler*innen nach ständiger Benotung einnehmen
Wie bereits im ersten Gebot angeführt, erzwingen Noten ein Mindset bei den Schüler:innen, bei dem der Wert ihrer Leistung mit einer willkürlichen Zahl gleichgesetzt wird. Sobald man diese relativiert oder gar entfernt, entsteht eine Unruhe. Wie sollen sie denn wissen, ob sie gut waren, wenn keine Note drunter steht oder es wenigstens Punkte gibt?
Hier helfen Argumente wenig. Schliesslich haben wir das Zepter in der Hand und bestimmen mit unseren Bewertungen über ihre schulische Karriere. Für die Schüler:innen steht dabei viel auf dem Spiel. Deshalb müssen wir behutsam vorgehen, wenn wir die Wirkung von Noten und deren Prävalenz im Unterricht reduzieren wollen. Es lohnt sich den Schüler:innen die Ziele einer experimentellen Benotung aufzuzeigen. Und wir müssen Wege darlegen, wie sie in diesem System ihre Leistungen steigern können, sei dies mit Feedback-Loops oder der Möglichkeit von Redos.
Am Schluss zählt aber die Erfahrung. Die wahre Wirkung des Ungrading entfaltet sich erst nach mehreren Anläufen. Erst wenn sie erleben, dass sie eine aktive Rolle in diesem Prozess einnehmen und mit Überarbeitungsmöglichkeiten nicht nur die Qualität der Arbeiten, sondern auch die endgültigen Noten beeinflussen können. So können die Schüler:innen ein Vertrauen aufbauen, dass es uns ernst ist, sie zu unterstützen und sie zu besseren Leistungen zu beflügeln. Dies braucht Zeit und Geduld und eine gewisse Beharrlichkeit.
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© Lukas Pfeifer, 2025