Bei der Umsetzung von Guerilla Ungrading gibt es wenig vorgepfadete Wege. Hier können wir zwar auf einige Erfahrungswerte von anderen Ungrader:innen im Netz bauen, doch schlussendlich müssen wir unsere eigenen Wege gehen und Praktiken entwickeln, die in unserem Setting einerseits legal und andererseits machbar sind.
Das Einzige, was dabei zählt, sind beharrliche Experimente. Hier empfiehlt es sich, kleine Schritte zu gehen. Am besten nimmt man sich zu Beginn einzelne Methoden vor, die man ausprobieren möchte oder versucht sich an einem konkreten Projekt. Von dort aus können dann schrittweise Anpassungen vorgenommen werden, bis hin zur Skalierung auf eine Semesterbenotung.
Dies sind alles ausgezeichnete Ratschläge. Ich selbst hatte sie aber nur halb befolgt. Mein erstes Ungrading Projekt war nicht nur unnötig kompliziert gestaltet, sondern scheiterte an einem zu wenig klar abgesteckten Rahmen und einer Klasse, die Mühe hatte, sich auf den Aufwand einzulassen. Dies hat mich aber nicht davon abgehalten, einfach weiterzumachen mit einem noch aufwendigerem Projekt, das die Semesternoten in zwei Fächer bestimmen sollte. Da war nichts mit kleinen Schritten. Stattdessen lernte ich eine ganze Menge über die Begleitung von Projekten, über die Fixierung der Schüler:innen auf Noten und über die Gestaltung eines Unterrichtsrahmens, in dem die Schüler:innen den Mut entwickeln, eigene Themen zu verfolgen und Produkte erfolgreich zu hoher Qualität zu entwickeln.
Im Folgenden berichte ich von meinem Scheitern und dem Gewinn, den ich daraus gezogen habe.
Das Master-or-Die-Desaster
Im Frühjahr 2022 beschloss ich, die Master-or-Die-Methode von Björn Nölte (Nölte 2021) mit einer Geschichtsklasse umzusetzen. Die Idee dahinter besteht darin, dass man die Klasse ein Produkt erstellen lässt, bei der sie über mehrere (Peer-)Feedback-Loops die Qualität kontinuierlich steigern, bis alle mit der Bestnote Sechs ausgezeichnet werden können. Wer die Qualitätssteigerung nicht hinbekommt, wird mit der Note 1 abgestraft. Dies ist jedoch eine symbolische Geste. Mit der kontinuierlichen Begleitung sollen alle Schüler:innen zum Erreichen der Anforderungen gebracht werden. Das Ziel ist ein Sechser-Schnitt, der aber mit der hohen Qualität der Arbeiten mehr als gerechtfertigt wäre.
Die Klasse war von der Idee begeistert, schliesslich hatten sie eine Bestnote in Aussicht. Für das Projekt sollten sie ein fiktives Propagandaplakat aus der Weimarer Republik erstellen und dieses dann in einer Quellenanalyse untersuchen und in einen historischen Kontext einordnen. Am Ende sollten alle Plakate in einem virtuellen Ausstellungsraum präsentiert werden. Keine leichte Aufgabe also. Hier war ein gewisses Planungsgeschick erforderlich, da mehrere Schritte durchlaufen werden mussten.
Für die Erstellung hatten sie zweieinhalb Monate Zeit, damit das Feedback auch wirklich umgesetzt werden konnte. Das Projekt wurde immer wieder im Unterricht thematisiert und das Vorgehen geklärt. Alles lief prima, bis sich herausstellte, dass niemand in der Klasse wirklich mit der Arbeit am Projekt begonnen hatte. Die lange Laufzeit des Projektes hatte dazu geführt, dass sie die Umsetzung immer wieder hinauszögerten. So mussten wir die Ungrading-Idee zwei Wochen vor Abgabe abbrechen. Die Schüler:innen nutzen die kurze Zeit, um ihre Produkte so gut wie möglich fertigzustellen, aber der beabsichtigte formative Prozess und eine sukzessive Qualitätssteigerung blieben auf der Strecke. Am Schluss benotete ich die Produkte entlang des Kriterienrasters. Eine Sechs schafften nur zwei Schüler:innen.
Trotzdem konnte ich wichtige Erkenntnisse aus diesem Experiment ziehen. Wenn die Schüler:innen von einem formativen Setting profitieren sollen, brauchen sie einen klaren Rahmen und Hilfestellungen. Dafür muss Unterrichtszeit zur Verfügung gestellt werden. Zudem wäre es bei dieser Klasse hilfreich gewesen, Zwischenschritte in Form von Produktentwürfen einzufordern. Diese hätten dann in Peer-Settings besprochen werden können. Dies hätte Verbindlichkeit geschaffen und ihnen gleichzeitig einen Einblick in die Werke ihrer Klassenkamerad:innen gegeben.
Grundsätzlich bietet das Master-or-Die-System gute Ansätze, wenn man mit Ungrading beginnen möchte. Die Idee des Mastery einer bestimmten Fähigkeit ist lobenswert, aber nicht immer einfach zu umsetzen. Vor allem, wenn es nur die Bestnote zu erreichen gibt. Dies kann einige Schüler:innen unter Druck setzen und zu vielen Überarbeitungsschritten führen, bis ein wirklich exzellentes Niveau erreicht ist. Dies ist aber eigentlich gar nicht notwendig. Die Schüler:innen sollen sich nach ihren Möglichkeiten und Interesse mit der Arbeit auseinandersetzen und zeigen, dass sie über mehrere Entwürfe bereit sind, die Qualität zu entwickeln, auch wenn dabei nicht zwingend Exzellenz erreicht wird. Dies ist im frontalen Unterricht auch nicht anders. Björn Nölte selbst hat die Master-or-Die-Methode noch in einer zweiten Version ergänzt, in der die Schüler:innen sich selbst Notenvorgaben machen, die sie im Projekt erreichen wollen.
Wie man sieht, haben meine Erkenntnisse wenig mit den Noten an sich zu tun. Der wahre Trick des Master-or-Die liegt eben darin, dass die Note fast völlig aus den Köpfen der Schüler:innen entfernt wird. Sie wissen zwar, dass sie die Bestnote erhalten, aber diese wird zu einem abstrakten Konzept. Im Vordergrund steht die Arbeit am Produkt und die angestrebte Verbesserung der Qualität. Und das ist ja der wahre Fokus meiner Bestrebungen. In dieser Hinsicht ist das Dogma von Master-or-Die äusserst hilfreich, aber auch recht rigide. Trotz der Rückschritte bei diesem Projekt merkte ich, dass ich gerade erst begonnen hatte. Bei meinem nächsten Schritt versuchte ich bereits, meine Erkenntnisse zu skalieren.
3-4-5-6 Benotung
In einer anderen Klasse habe ich während eines Semesters versucht, alle Leistungsnachweise nur mit ganzen Noten zu versehen (Feldman 2019, S. 105). Die Benotung lief auf ein Pass/Fail-System hinaus, in dem es nur vier Noten gab: Die Drei zeigte an, dass die Anforderungen noch nicht erfüllt waren. Hier musste eine Überarbeitung vorgenommen werden. Vier, Fünf und Sechs waren drei Stufen eines Pass. Hier waren die Mindestanforderungen erfüllt und die Schüler:innen konnten entscheiden, ob sie noch Überarbeitungen vornehmen wollten, um eine bessere Note zu erreichen. Das Ziel war, dass die Schüler:innen sich mehr auf die Qualität ihrer Arbeit konzentrieren, als darauf, einzelne Punkte zu ergattern.
Die Möglichkeit, ihre Texte zu überarbeiten zu können, gefiel den Schüler:innen sehr. Es nahm ihnen Druck, da sie nicht Angst haben mussten, für kleine Fehler mit Abzügen bestraft zu werden. Auch signalisierte ihnen der Umgang mit Entwürfen, dass ein Produkt nicht einfach fertig ist und mit einer Note versehen wird, sondern dass es stetig weiterentwickelt werden kann. Es genügt dabei nicht nur, dass man selbst damit zufrieden ist, vielmehr soll es auch hohen Qualitätsansprüchen genügen.
Der Haken an der Sache war, dass die Schüler:innen die Anforderungen in allen Kategorien des Kriterienrasters erreichen mussten, wenn sie eine gewisse Note erreichen wollten. Es wurde nicht einfach aufgerundet. Wer in einem Essay eine Fünf wollte, musste in Inhalt, Struktur und Sprache die Anforderungen einer Fünf erreichen, ansonsten wurde es auf eine Vier heruntergestuft. Die Schüler:innen hatten zwar die Möglichkeit, jeweils eine Überarbeitung vorzunehmen, aber das garantierte ihnen nicht, dass sie die angestrebte Note auch wirklich erreichten. Zudem war ich gezwungen, den Schüler:innen bei Rückmeldungen zu ihren Entwürfen in Punkten anzuzeigen, wo sie etwa standen. Damit wurde aber die Aufmerksamkeit wieder auf die Note gelenkt und führte automatisch zu der Punktejagd, die ich eigentlich vermeiden wollte.
Dies führte zu Frustration und Unzufriedenheit. Die Schüler:innen waren bei den Überarbeitungen gestresst und genervt, wenn es trotzdem nicht für die gewünschte Note reichte. Der Fokus auf Noten blieb bestehen. Eine Schülerin berichtete mir, dass es sehr schwierig sei, im Zeugnis eine Fünf zu erreichen, da man dies eigentlich nur schaffe, wenn man ausschliesslich Fünfen schreibe. Zwei Fünfen und eine Vier ergaben immer noch eine 4.5, genauso wie zwei Vierer und eine Fünf. So war sie, als sie eine Vier erhielt, auch nicht mehr motiviert, in das nächste Projekt zu investieren. Zudem musste ich bei der 3-4-5-6-Benotung feststellen, dass es zu komplexen Auswüchsen gekommen war. Zum Beispiel war die Benotung bei einer mündlichen Prüfung schwierig, da hier keine Überarbeitungen möglich waren. Hier setzte ich als Kompromiss halbe Noten. So habe ich das Experiment nach einem Semester wieder abgebrochen. Die Klasse atmete auf und auch ich war froh, in Zukunft wieder klassisch benoten zu können.
Trotz der Unzulänglichkeiten in der Umsetzung und der Unzufriedenheit der Schüler:innen, konnte ich doch einiges aus dem Projekt mitnehmen. Im Gegensatz zum Master-or-Die-Ansatz, blieb hier die Note ein zentraler Fokus für fast alle Aspekte der Leistungserhebungen. Ob es nun um das Erreichen einer Note durch Überarbeiten ging oder um die Semesternote, das System ermutigte das ständige Errechnen des Notenschnitts. Ich vermute, dass es in so einem System wohl geholfen hätte, viel mehr kleine Leistungsnachweise zu machen. Dies hätte einen Teil des Drucks genommen. Da ich aber so wenig Noten wie möglich generieren wollte, war dies für mich keine Option.
Zudem scheiterte ich hier unter anderem wohl an meinen eigenen Ambitionen. Anstatt ein ganzes Semester in zwei Fächern einer solchen ungewöhnlichen Benotung zu unterwerfen hätte ich es lieber, wie beim Master-or-Die, mit einem einzigen Projekt ausprobiert und umgesetzt. Dafür nutzte ich das Projekt, um Wege zu finden, wie ich meine Projektbegleitung effizienter gestalten konnte. Vor allem die Vergabe von Feedback nahm anfangs immer noch viel Zeit in Anspruch. Im Verlauf des Semesters begann ich Dylan Wiliams Four Quarters Marking umzusetzen, was mich bei der Begleitung entlastete, indem ich Peer-Feedback und Selbstevaluation gezielt einsetzte.
Guerilla Ungrading - ein Epilog
Wenn ich auf meine zwei Experimente zurückblicke, würde ich wohl einiges anders machen. In Kombination bescherten sie mir jedoch eine Fülle an Erfahrungen und konkreten Erkenntnissen, die meine Sicht auf die Noten schärften.
Noten sind ein notwendiges Übel, das uns Lehrpersonen durchaus die Arbeit leichter machen kann. Schliesslich helfen sie uns, die Schüler:innen dazu zu bringen, das zu tun, was wir wollen, wann wir wollen. Aber ich bin überzeugt, dass sie den Schüler:innen nicht dabei helfen, mehr zu lernen oder sich das Gelernte besser zu behalten. Im Gegenteil, ich glaube, dass Noten eine stressige Umgebung schaffen, in der die Schüler:innen mehr über die Konsequenzen ihres Handelns bei Leistungserhebungen Gedanken machen als über die Lerninhalte selbst.
Je weniger die Schüler:innen ihre Leistungen mit willkürlichen Zahlen verbinden, desto besser. Der wahre Gewinn von Ungrading besteht darin, dass die Schüler:innen den Kopf frei bekommen, sich mit den Inhalten und Anforderungen einer Aufgabe auseinanderzusetzen. Dies gelingt am besten, wenn sie im Unterricht und eben auch bei Leistungserhebungen die Möglichkeit erhalten, Fehler zu machen und sich kritisch mit diesen auseinandersetzen. Dort findet das wirkliche Lernen statt. Eine solche fehlerfreundliche Umgebung braucht Zeit, Vertrauen und muss in kleinen Schritten aufgebaut werden.
Das bedeutet aber nicht, dass wir die Noten gleich abschaffen müssen. Wie wir gesehen haben, gibt es viele Wege, wie wir ihre schädliche Wirkung auch in einem auf Noten ausgerichteten System systematisch reduzieren können. Aber hey, es gäbe da schon ein paar gute Gründe dafür…
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© Lukas Pfeifer, 2025