Noten sind der Ausdruck eines Machtgefüges. In dieser hierarchischen Ordnung sind die Schüler:innen Empfänger:innen von Anweisungen, Rahmenbedingungen, Bewertungskriterien und Raster und einer abschliessenden Bewertung mit Punkten und einer Note. In diesem rigiden System sind sie den Erwartungen und Launen der Lehrpersonen ausgesetzt.
Es wird wenig Spielraum gelassen für die Einwände und Bedürfnisse der Schüler:innen. Dies wird grundsätzlich nicht begründet, sondern als gegebene Notwendigkeit gesehen. Dabei ist die Notengebung nicht nur ein Instrument der Leistungsmessung, sondern auch der Disziplinierung. Die Noten sollen die Schüler:innen motivieren, Leistungen zu erbringen. Falls sie dazu nicht bereit sind, kann man fehlende oder fehlerhafte Leistungen mit schlechten Noten abstrafen. Dieses System der Nötigung ist ein Grundpfeiler unseres Schulsystems und damit auch des Autoritätsverständnisses vieler Lehrpersonen.
Wenn wir jetzt verlangen, dass die Schüler:innen bei der Benotung mitreden dürfen, klingt dies auf den ersten Blick kontraintuitiv. Die Benotung als Machtmittel, mit dem ich einerseits ihr Lernen einstufe, aber auch eine disziplinarische Position einnehme, ist im Selbstverständnis der Lehrpersonen so tief verankert, dass es anfangs schwer fällt, zumindest einen Teil der Kontrolle abzugeben. Dies ist unumgänglich, wenn wir die schädliche Wirkung von Noten verringern wollen. Die Note, die wir geben müssen, soll auf lange Sicht aus dem Bewusstsein der Schüler:innen zurückgedrängt werden. Sie soll ein Abschluss einer Lerneinheit sein (Gebot 5), nachdem die Schüler:innen verschiedene Möglichkeiten erhalten haben, ihr Können zu zeigen (Gebot 6). Die Note soll nicht das Druckmittel sein, das sie zur Auseinandersetzung mit dem Stoff bewegt, sondern eine unerhebliche Zahl, die mit dem eigentlichen Lernen nicht mehr viel zu tun hat.
Wenn wir als Lehrpersonen dies erreichen wollen, müssen wir zumindest einen Teil unserer notengebenden Autorität abgeben. Das bedeutet natürlich nicht, dass die Schüler:innen über alle Aspekte des Unterrichts bestimmen sollen. Als Pädagog:innen sind wir Expert:innen für die Strukturierung und Vermittlung unserer Fachinhalte. Daran ändert sich nichts. Wir sprechen hier lediglich von der abschliessenden Bewertung von Lerneinheiten.
Lass sie wählen, was benotet werden soll
Wenn wir uns entschliessen, nur die minimale Anzahl an Noten zu vergeben (Gebot 4), haben wir einen gewissen Spielraum, bei dem wir auch die Schüler:innen mit einbeziehen können. Ich bin gesetzlich gezwungen, drei Noten pro Semester zu setzen. Oft behandle ich aber durchaus mehr Themen als das. Ich habe nun die Wahl, wo ich eine Note setze. Dies ist eine ideale Voraussetzung, die Schüler:innen hierbei an Bord zu holen. Ich kann den Schüler:innen am Anfang des Semesters, oder noch besser, am Ende des vorherigen Semesters einen Überblick über die zu behandelnden Themenbereiche geben und ihnen meine Lernerwartungen mitteilen.
In meiner Englischklasse behandle ich im kommenden Semester z.B. zwei Grammatikthemen und führe ein Buchprojekt durch, in dem sie ein Essay schreiben und eine mündliche Prüfung ablegen. Ich kann ihnen jetzt darlegen, welche Erwartungen ich an ihr Lernen habe, also welche Fähigkeiten sie sich aneignen sollen und in welchen Produkten sie dies zeigen können. Hier kann ich ihre Rückmeldungen aufnehmen und in der Planung berücksichtigen. Zudem kann ich eine Diskussion starten, bei welcher Leistungserhebung nun eine Note gesetzt werden soll.
Ich bin nach diesem Gespräch nicht gezwungen, alle ihre Wünsche und Anregungen umzusetzen. Nicht alles wird in meinem Sinne als Lernexperte sein. Der Schlüssel liegt darin, einen Dialog zu führen und ihnen die Möglichkeit zur Partizipation zu geben. Auch wenn am Schluss nur kleine gemeinsame Entscheide gefällt werden, ist dies bereits ein Schritt, der das hierarchische Gefälle ebnen kann. Es ermöglicht uns, uns auf Augenhöhe zu unterhalten. Dies kann die Beziehung nachhaltig verändern und den Schüler:innen ein Grundvertrauen geben, dass sie in meinem Unterricht nicht einfach nur meiner Bewertung ausgesetzt sind.
Lass sie bei den Qualitätskriterien mitbestimmen
Projektarbeiten werden oftmals anhand von Kompetenzrastern überprüft und die erreichten Leistungen in einen Notenwert überführt. Dies ist ein notwendiges Übel, da wir einerseits die einzelnen Dimensionen eines Produktes (Aufsatz, Thesenpapier oder Lernvideo, Podcast etc.) beurteilen müssen und darüber hinaus gezwungen sind, eine Note zu setzen.
Anders als bei einer Prüfung, bei der vorhandenes Wissen abgefragt wird, haben wir bei der Erstellung eines Produktes grössere Spielräume, wie wir die Schüler:innen an der Beurteilung teilhaben wollen. Wir können uns zum Beispiel beim Start des Projektes eine Kategorie der Qualitätskriterien offenhalten. Die Schüler:innen müssen erst im Verlauf des Projekts eine klare Vorstellung von der Qualität ihrer Produkte erhalten. Vor allem, wenn dies in Peer-Feedbacks noch zusätzlich geübt wurde. Wir können später dann gemeinsam bestimmen, welche Kriterien benotet werden und welche nicht. Darum lohnt es sich, damit bis kurz vor der Abgabe zu warten.
Es können aber auch unerwartete Kriterien auftauchen, an die wir (oder ich als Lehrkraft) bei der Konzeption des Auftrags noch nicht gedacht haben. Im Gespräch mit der Klasse kann nun festgelegt werden, welche bestehende Kriterien bewertet werden sollen oder welche Neuen wir noch dazu nehmen sollen. Die Schüler:innen können so an der Beurteilung teilnehmen und gleichzeitig behalte ich mir einen Spielraum vor, den ich bestimmen kann.
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© Lukas Pfeifer, 2025