Unsere Benotung ist sehr unzuverlässig und subjektiv. Sie hängt von unseren subjektiven Normvorstellungen und den subjektiven Wahrnehmungen ab (Brühlmeier 1980). Wir sind bei unseren Bewertungen von Schüler:innenleistungen immer Inkonsistenzen unterworfen. So bewerten wir eine Leistung anders, wenn wir ausgeruht sind und gerade gegessen haben, als wenn es sich um die neunzehnte Prüfung am Ende eines langen Tages handelt.
Zudem sind wir bei der Korrektur und Bewertung von Leistungen verschiedenen Wahrnehmungsverzerrungen unterworfen, die sich auf die Benotung auswirken können. So können höfliche Schüler:innen als leistungsfähiger wahrgenommen werden (Halo-Effekt) oder wir bewerten eine schwache Leistung strenger, wenn sie direkt auf eine sehr gute Leistung folgt (Tendenz zu Extrembewertungen). Auch wenn wir Lernende bereits länger begleiten und so schon über ein umfangreiches Sortiment von Referenzleistungen (Noten aus den vergangenen Semestern) verfügen, kann dies unsere Wahrnehmung beeinflussen (logischer Fehler). Wir können aus der gewonnenen Erfahrung falsche Schlüsse auf neue Bewertungssituationen ziehen, indem wir davon ausgehen, dass es sich hier um einen Vierer-Schüler handelt (Nölte & Wampfler 2021, S.45ff).
Wenn wir unsere Bewertung nun im Kontext der ganzen Schule betrachten, werden wir feststellen, dass eine wirklich objektive Bewertung nicht möglich ist. Unsere Kolleg:innen würden die gleichen Leistungen mit unterschiedlichen Ziffern versehen. Selbst wenn wir dasselbe Fach an derselben Schule unterrichten, werden wir unsere Prüfungen unterschiedlich gestalten, haben unterschiedliche Vorstellungen von gelungenen Leistungen, gewichten die erhaltenen Leistungen unterschiedlich und nutzen unterschiedliche Berechnungsgrundlagen für die Notensetzung. Kurz gesagt, die Noten, die wir für Leistungen vergeben, sind in keiner Weise objektiv, sobald wir über den schmalen Tellerrand unseres Klassenzimmers schauen.
Viele dieser Faktoren, die die Scheinobjektivität der Notengebung unterwandern, liegen ausserhalb unseres Einflussbereiches. Es ist nicht möglich, den Bewertungsprozess so zu normieren, dass alle Lehrkräfte exakt gleich bewerten, noch ist dies erstrebenswert. Es gibt jedoch Schritte, die wir unternehmen können, um unsere individuelle Notengebung fairer zu machen.
Ein erster Schritt besteht darin, dass man sich zuerst seine Befangenheit eingesteht und sich im besten Falle genauer informiert, wo unterbewusste Effekte auf unsere Wahrnehmung und damit auch auf unsere Leistungsbewertung Einfluss nehmen. Dies ist jedoch nur ein erster Schritt, weil völlig trennen von der Benotung können wir diese Effekte nicht. Wir können uns aber auf einzelne Bereiche unserer Bewertungspraxis fokussieren, bei denen wir besonders anfällig für Bias sind.
- Verzichte auf Mitarbeitsnoten
- Anonymisiere deine Korrekturen
- Gib keine Abzüge bei verspäteter Abgabe von Arbeiten
Verzichte auf Mitarbeitsnoten
Mitarbeitsnoten sind umstritten. Einige schwören darauf, um die Mündlichkeit, der in einer digitalen Welt zusätzliche Bedeutung zukommt, auch in die Benotung einzuschliessen. Andere sehen sie als zusätzliche Belastung in einem bereits stressigen Unterrichtsalltag. Dazu kommt, dass bei der Mitarbeitsbewertung ein besonders hohes Risiko der Subjektivität mitschwingt.
Dabei stellen sich verschiedene Fragen: Wie soll sich diese Note zusammensetzen? Benote ich die reine Quantität, oder auch besonders gute Beiträge zum Unterricht? Gibt es Abzüge, wenn man sich nie meldet? Starten alle bei einer Vier oder muss man sich von einer Drei hocharbeiten? Was mache ich, wenn sich jemand nie meldet? Sollen störendes Verhalten oder Ablenkungen während dem Unterricht mitbewertet werden? Notiere ich während der Stunde fortlaufend oder erst am Ende der Stunde? Wie stelle ich sicher, dass ich alle Wortmeldungen aufschreibe? Unterscheide ich Selbstinitiative der Schüler:innen und solche, die von mir aufgerufen wurden?
Wenn man die eingangs erwähnten Verzerrungseffekte im Kopf behält, merkt man schnell, wie anfällig diese Form von Erhebung für Wahrnehmungsverzerrungen ist. Egal, wie sehr wir versuchen objektiv eine Beurteilung zu erreichen, bei der mündlichen Note sind wir anfällig für Bias (Feldman 2019, S. 137). Hier ist es leicht, störende Schüler:innen abzustrafen oder scheue Schüler:innen als faul abzutun. Gleichzeitig ist unsere Wahrnehmung begrenzt und wenn wir uns am Ende der Stunde Notizen machen, werden die Wortmeldungen bereits gefiltert und priorisiert worden sein, so dass uns sicher die sehr guten Beiträge und solche, die am Anfang und am Ende der Stunde gemacht wurden, besonders bleiben.
Gleichzeitig ist eine Mitarbeitsnote auch wieder quasi-kapitalistischen Grundvoraussetzungen des Notensystems unterworfen. D.h. dass findige Schüler:innen dieses System auch gezielt nutzen, um ihre Note aufzubessern. Dies zeigt sich schon bei einem Blick auf YouTube, wo einschlägige Influencer:innen Ratschläge bezüglich der Sitzwahl, der Frequenz der Meldungen und dem Zeitpunkt der Meldungen (Eckl 2018) geben. Oder noch direkter: «Selbst wenn bei dir gar nichts geht, das mindeste ist, dass du nicht störst, und wenn du dabei noch ein interessiertes Gesicht aufsetzt und ab und zu mal nickst, macht das schon einmal einen guten Eindruck.» (Lehrerschmidt 2019, 1:15).
Aus all diesen Erkenntnissen fällt (zumindest mir) die Schlussfolgerung leicht: Streiche die Mitarbeitsnote ersatzlos. Wenn die Mündlichkeit wichtig ist, ersetze sie durch eine mündliche Note, bei der die Schüler:innen einen klaren Rahmen haben und sich vorbereiten können und wo ich mich als Lehrkraft auch wirklich auf ihre Wortmeldungen konzentrieren kann. Hier können die Schüler:innen wirklich zeigen, was sie können und sind nicht (im gleichen Ausmass) einem Filtersystem ausgesetzt, das ihre Leistung verzerrt.
Anonymisiere deine Korrekturen
Ein weiterer Tipp, wie wir unsere Befangenheiten bei der Bewertung von Noten reduzieren können, ist die einfache Anonymisierung der Prüfungen. Bei analogen Prüfungspapieren wird die Handschrift zwar immer noch einen verzerrenden Eindruck hinterlassen (Nölte & Wampfler 2021, S.45). Doch wenn ich bei einer Prüfung jeweils eine Aufgabe am Stück korrigiere, werde ich schon nach der zweiten Aufgabe nicht mehr wissen, um wessen Prüfung es sich handelt.
Bei digitalen Erhebungen ist dies noch einfacher. Viele digitale Prüfungsplattformen bieten die Anonymisierung standardmässig an. Dank Knopfdruck weiss ich nicht mehr, wer welche Prüfung geschrieben hat, und kann die Texte unbefangen(er) korrigieren. Die Anonymisierung kann aber auch dazu führen, dass ich strenger korrigiere, da hier auch der Sympathiebonus wegfällt…
Gib keine Abzüge bei verspäteter Abgabe von Arbeiten
Es mag ungewohnt erscheinen, eine verspätete Abgabe mit unserem Bias in Verbindung zu bringen. Doch wenn wir Punkte für eine verspätete Abgabe abziehen, missachten wir dabei alle Umstände, die dazu geführt haben. Die Bewertung von verspäteten Abgaben von Arbeiten oder Produkten ist oftmals ein Teil der Kriterienraster. Es gibt kaum etwas objektiveres als die Abgabe zu einem vorbestimmten Zeitpunkt. Entweder man schafft es oder man ist zu spät dran.
Wenn ich hier Punkte gebe, sind diese jedoch für einen Grossteil der Schüler:innen ein geschenkter Bonus. Für die meisten ist die rechtzeitige Abgabe kein Problem. Und für mich persönlich auch nicht. Schliesslich muss ich bei einer Projektabgabe keine Nachprüfung neu schreiben und organisieren. Mir fehlen lediglich einzelne Produkte, um den ganzen Klassensatz an Noten ins System einzutragen.
Jedoch bewerte ich dabei das Verhalten und nicht die erbrachte Leistung. Eine verspätete Abgabe hat nichts mit dem Inhalt, der Struktur oder der Kreativität der Arbeit zu tun. Es ist lediglich eine disziplinierende Massnahme, bei der ich Druck aufsetze, damit auch wirklich alle rechtzeitig abgeben. Dies verfehlt jedoch oft seine Wirkung. Wenn Schüler:innen Leistungsnachweise zu spät abgeben, hat dies oft triftige Gründe. Anstatt hier Punkte abzuziehen oder gar eine Eins zu setzen, verfehlt unser Ziel, die Schüler:innen bei ihrem Lernen zu begleiten, völlig. Stattdessen sollten wir lieber Kontakt zu unseren Schüler:innen aufnehmen, fragen, was los ist, und mit ihnen gemeinsam überlegen, wann ein sinnvollerer Moment für eine Abgabe wäre.
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© Lukas Pfeifer, 2025