In diesem Schuljahr beginne ich, in meinem Geschichtsunterricht eine neue Lernform umzusetzen, in der die Schüler:innen selbst entscheiden, was genau und wie viel sie wann leisten wollen. Im Zentrum stehen nicht länger Prüfungen, in denen Punkte zu Noten verrechnet werden, sondern verschiedene Kompetenzen, die die Schüler:innen im Verlauf des Semesters unter Beweis stellen können. Diese werden in einem Kompetenzraster dargestellt und nicht benotet. Stattdessen gelten sie, nachdem sie erfolgreich gezeigt wurden, als bestanden und werden der Semesternote angerechnet.
Diese Lernform stellt die Prämissen des traditionellen Unterrichts auf den Kopf, weil hier die Schüler:innen einen grossen Teil der Verantwortung für ihr Lernen übernehmen. Mit der Orientierung auf Kompetenzen wird das individuelle Lernen in den Vordergrund gestellt und es verändert meine Rolle als Lehrperson grundsätzlich. So entsteht eine Lernumgebung, die das Potenzial hat, Schüler:innen nicht nur kognitiv zu fordern, sondern auch in ihrer Selbstwirksamkeit zu stärken.
Das sind nur einige Gründe, die mich bewogen haben, das selbstgesteuerte Lernen in meinem Unterricht auszuprobieren. Und dabei bin ich an meiner Schule nicht alleine. So hat in den letzten zwei Jahren eine ganze Gruppe von Lehrpersonen begonnen, diese Lernform auszuprobieren. Einige setzen sie nur in einzelnen Projekten oder Unterrichtseinheiten um, andere haben gleich einen Semesterkurs mit diesem System aufgebaut und somit die traditionelle Notengebung über Bord geworfen. All dies passiert mit der vollen Unterstützung der Schulleitung. Das selbstgesteuerte Lernen an der FMS hat sogar einen eigenen Namen. Wir nennen es SELF.
In den kommenden Zeilen möchte ich genauer beleuchten, wie SELF funktioniert und den folgenden Fragen nachgehen: Was macht diese Lernform so wirkungsvoll, dass immer mehr Lehrpersonen an unserer Schule sie übernehmen? Wie verändert sie das Lernen und Lehren? Und welche Vorteile bietet sie, die im herkömmlichen Unterricht oft zu kurz kommen? Am Schluss bleibt die Frage: Kann SELF das Potenzial, das es verspricht, auch wirklich ausschöpfen und eine nachhaltige Veränderung im Bildungsalltag bewirken?
- SeL vs SoL
- SELF ist attraktiv
- SELF schafft eine Fehlerkultur
- SELF ermöglicht Autonomie
- SELF basiert auf Transparenz
- SELF erlaubt vielfältige Einblicke ins Lernen
- Es glänzt. Das könnte Gold sein.
SeL vs SoL
Die Idee zu dieser Lern- und Beurteilungsform stammt vom Informatiklehrer Daniel Brodbeck, der diese in seinem Studium an der PHZH entwickelt und in seiner Arbeit “Selbstgesteuertes Lernen im Informatikunterricht” (Brodbeck & Zaugg 2018) eingehend beschrieben hat. Zudem erläuterte er seine Ansätze in seiner Keynote an der Didacta DIGITAL 2019.
Für Brodbeck ist dabei der Aspekt der Selbststeuerung zentral. So grenzt er diese Lernform klar vom selbstorganisierten Lernen ab, das als "SOL" an vielen Schulen erprobt wird. Aus seiner Sicht beschreibt SOL das freie, intrinsisch motivierte Lernen und Arbeiten, bei welchem die Schüler:innen selbst entscheiden, WAS sie WARUM, WANN und WIE lernen. Das findet in der Schule, wie wir sie kennen, nur sehr selten statt, weil das WAS, also die Organisation des Lernens (Fach/Thema), immer von der Lehrperson ausgeht. Beim selbstgesteuerten Lernen werden die Lerninhalte vorgegeben und die Lernenden erhalten lediglich die Möglichkeit, das WANN und das WIE selbst zu bestimmen.
Damit sind die Schüler:innen in einen klaren schulischen Rahmen, mit den damit verbundenen Erwartungen, Regeln und Anforderungen eingebunden. Und diesen Rahmen sieht er als essentiell für erfolgreiches Lernen an. Denn Selbstorganisation ist anspruchsvoll und nicht etwas, das Schüler:innen einfach können. Es ist eher ein Ziel als ein Mittel des schulischen Lernens.
Damit die Schüler:innen das Ziel der Selbstorganisation erreichen können, müssen sie zunächst lernen, sich in einem bestehenden System zu navigieren und ihr Lernen aktiv zu steuern. Dazu benötigen sie eine Lernumgebung, in der einerseits ein klarer Rahmen abgesteckt ist und die andererseits verschiedene Hilfestellungen bietet, die die Schüler:innen dabei unterstützen, eigene Entscheidungen zu treffen, aber auch die Qualität ihrer Arbeit einzuschätzen. Diese beiden Voraussetzungen bilden die Grundlage für das von Daniel Brodbeck entwickelte System des selbstgesteuerten Lernens.
SELF ist attraktiv
Es ist diese Mischung aus Kontrolle und Selbständigkeit, die dieses System so attraktiv machen. Die Schüler:innen werden mit den Aufträgen nicht alleine gelassen, sondern erhalten mit dem Kompetenzraster ein Werkzeug an die Hand, mit dem sie sich durch eine Unterrichtseinheit navigieren können. Das Raster gliedert die Lerninhalte in einzelne Kompetenzen, die wiederum in Komplexitätsstufen unterteilt sind. Es gibt Aufschluss über die erforderlichen Methoden und Assessment-Formate und gibt so den Schüler:innen klare Hinweise, wie sie die gesteckten Ziele erreichen können. So ist es gleichzeitig eine Karte zur Orientierung und Checkliste. Wie das genau aussieht, erzähle ich in einem späteren Beitrag.
Aber auch für die Lehrperson ergeben sich in diesem System einige Vorteile. Denn obwohl ein grosser Teil der Verantwortung an die Schüler:innen übergeben wird, passiert der Lernprozess nicht in einer Black Box, sondern kann regelmässig sichtbar gemacht werden. Auch hier ist es das Kompetenzraster, das der Lehrperson ein grosses Mass an Verbindlichkeit ermöglicht. So bestimmt die Lehrperson, wann, wie und wie oft die Schüler:innen die Kompetenzen zeigen sollen und entscheidet dann aus ihrer Expertise heraus, ob die Kompetenz bestanden ist, oder noch nicht. Dieser Pass/Fail-Ansatz vereinfacht die Bewertung und schafft Transparenz. Denn anstatt einer Note erhalten sie Feedback darüber, wo sie gerade stehen und wie sie ihre gesteckten Ziele erreichen wollen. Gleichzeitig nimmt es den Druck von den Schüler:innen, da sie mehrere Versuche haben, um eine Kompetenz zu zeigen.
Der Grund für die hohe Attraktivität von SELF liegt aber nicht nur an der guten Struktur oder der Pass/Fail Benotung. Das selbstgesteuerte Lernen, wie Brodbeck es beschreibt, ermöglicht eine Lernumgebung, in der die Schüler:innen im Zentrum stehen und die neben der Aneignung von Wissen, das Erlangen von Kompetenzen fördert. Dabei hat diese Lernumgebung einige Eigenschaften, die sich besonders förderlich auf das Lernen auswirken. Dies möchte ich an vier Beispielen genauer erläutern.
SELF schafft eine Fehlerkultur
Einer der grundlegenden Ansätze von SELF besteht darin, dass eine Kompetenz mehrmals gezeigt werden kann. Allein diese Möglichkeit nimmt erheblichen Druck von den Schüler:innen, da sie wissen, dass ihre Lernleistung nicht auf einen einzigen Versuch beschränkt ist. Dies ist die Voraussetzung, dass Schüler:innen den Mut entwickeln können, um Risiken einzugehen, eigene Lösungen zu entwickeln oder unorthodoxe Lernwege zu beschreiten.
Das bedeutet natürlich nicht, dass wir den Schüler:innen alles durchgehen lassen. Vielmehr verzichten wir bewusst auf einmalige Leistungserhebungen und das Setzen von Noten, die das Lernen abschliessen würden. Stattdessen fördern wir eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit den Lerninhalten, bei der die Schüler sich stetig verbessern können.
Eine gute Fehlerkultur muss auch eng mit einer starken Feedbackkultur verbunden sein. Regelmässige Rückmeldungen durch die Lehrperson oder durch andere Schüler sind entscheidend, um die Einstellung zu fördern, dass jeder Fehler eine Chance zur Verbesserung ist. So entsteht eine Lernumgebung, in der das Ziel nicht nur das Erreichen von Kompetenzen, sondern auch das ständige Lernen und Wachsen ist.
SELF ermöglicht Autonomie
Im selbstgesteuerten Lernen erhalten die Schüler:innen vielfältige Möglichkeiten, Verantwortung für ihr Lernen zu übernehmen und eigene Entscheidungen zu treffen. So können sie entscheiden, was sie in welcher Reihenfolge lernen, wann sie es zeigen und generell, wie viel sie bereit sind, in den Unterricht zu stecken. Lernerfolge, die in solch einer Lernumgebung erreicht werden, ermöglichen das Erleben von Selbstwirksamkeit und steigern die intrinsische Motivation.
Gleichzeitig muss der Lernprozess in einer solch freien Umgebung auch begleitet und unterstützt werden. Vielleicht werden zuerst einzelne Entscheidungen zur Auswahl gegeben, bevor die Lernwege ganz geöffnet werden. Zudem helfen Anleitungen, Methodenblätter, und sonstige Scaffolds, um die Schüler:innen bei ihren Entscheidungen zu unterstützen. Dies hilft ihnen, Lernstrategien zu entwickeln, um ihre Arbeit besser zu steuern, einzuteilen und die Qualität zu beurteilen.
SELF basiert auf Transparenz
Auch wenn die Transparenz im schulischen Alltag oft wenig beachtet wird, ist sie ein zentraler Faktor für den Lernerfolg. Denn nur, wenn in einer Lernumgebung absolut transparent kommuniziert wird, können die Schüler:innen verstehen, was von ihnen erwartet wird, was sie erreichen sollen und wie sie es erreichen können.
Dies ist definitiv eine Stärke von SELF. Durch die Ausformulierung des Kompetenzrasters wird bei jedem Modul genau definiert, was die Schüler:innen können müssen und wie sie diese Kompetenzen zeigen können. Dies ermöglicht den Schüler:innen, sich genau zu orientieren und ihren Lernweg einzuschätzen und zu planen. Auch bei der Erstellung der Produkte werden klare Kriterien definiert, die wiederum ein gemeinsames Qualitätsbewusstsein ermöglichen. Dieses Bewusstsein von Qualität wird in gemeinsamen Workshops im Unterricht aufgebaut. Es ist die Voraussetzung, wenn ich will, dass die Schüler:innen qualitativ hochwertige Arbeiten abliefern.
Während diese Formen der Transparenz bereits im traditionellen Unterricht zu finden sind, sucht die Transparenz bei der Benotung im SELF-Unterricht ihresgleichen. Hier gibt es keine Zitterpartie nach jeder Prüfung, welche Punktzahl für eine Leistung wohl ausgespuckt wird. Durch die Definition des Kompetenzrasters erhalten die Schüler:innen eine klare Anleitung, wie sie eine bestimmte Note erreichen können und können dann darauf hinarbeiten.
SELF erlaubt vielfältige Einblicke ins Lernen
Lernen als kognitiver Prozess ist unsichtbar und darum sehr schwer einzuschätzen. Alles, was uns Lehrpersonen bleibt, sind Spuren dieses Lernens (Wampfler 2024) im Schulalltag. Diese Spuren müssen wir sammeln und deuten, um einen Einblick in das Lernen zu bekommen und herauszufinden, wo sie stehen, was ihnen bereits gelingt und wo sie noch nicht weiterkommen. Als Lehrperson brauche ich so viele Informationen wie möglich, wenn ich die Schüler:innen wirklich auf ihrem Lernweg begleiten will.
Auch hier ist SELF im Vorteil. Prüfungen geben uns zwar einen Einblick in den Lernstand, doch mit der Vergabe von Noten wird das Lernen abgeschlossen und die erlangten Informationen haben nur einen beschränkten Nutzen, da sie ja nicht weiterverwendet werden. Ohne Noten kann ich die Lernenden nun mit Quizze, mit Gesprächen oder mit der Abgabe von Entwürfen das zeigen lassen, was sie in dem Moment können, ohne dass sie unter Druck gesetzt werden und mit der Aussicht, die erhobenen Daten so zu verwenden, dass sie sich verbessern können.
Gleichzeitig benötigen auch die Schüler:innen eine regelmässigen Einblick in ihren eigenen Lernstand. Dies wird in SELF ermöglicht, wenn sie ihr Lernen in Journalen, Logbüchern oder Portfolios dokumentieren. Diese Dokumentationen können mit persönlichen Lernzielen gekoppelt werden, so dass sie immer wieder überprüfen können, wo sie stehen und vielleicht gemeinsam mit der Lehrkraft Entscheidungen treffen können, wie die nächsten Schritte zu gestalten sind.
Es glänzt. Das könnte Gold sein.
Wie jedes andere System des schulischen Lernens ist SELF keineswegs über alle Zweifel erhaben und birgt zahlreiche Fallstricke und Herausforderungen, die es zu beachten gibt.
Wer mit SELF arbeitet, muss sich bewusst sein, dass der bisherige Unterricht ziemlich stark überarbeitet und angepasst werden muss. Das bedeutet einen nicht unerheblichen Initialaufwand, denn jede Unterrichtseinheit muss konzipiert, geplant und vollständig vorbereitet werden, bevor sie der Klasse präsentiert wird. Diese intensive Vorbereitung kann besonders für Lehrpersonen, die neu in diesem Ansatz sind, sehr zeitaufwendig und anstrengend sein.
Diese präzise Vorbereitung der Unterrichtseinheit führt auch dazu, dass ich während des Projekts weniger flexibel bin. Ich habe als Lehrperson also nicht mehr den Luxus, von Woche zu Woche auf die Dynamik des Unterrichts zu reagieren. Gleichzeitig muss ich bereit sein, auf Unerwartetes einzugehen und wenn nötig, Anpassungen zu machen. Es kann vorkommen, dass der Rahmen entweder zu eng oder zu weit gesteckt ist, was entweder die Selbstständigkeit einschränkt oder die Schüler:innen überfordert. Diese Unsicherheit macht die Planung anspruchsvoll und erfordert ein hohes Mass an Flexibilität und Anpassungsfähigkeit.
Eine weitere Herausforderung ist die Konvertierung der gezeigten Kompetenzen in eine Note. Hier bleibt immer noch ein grosser Spielraum und es besteht die Gefahr, dass die Schüler:innen entweder zu einfach viele Kompetenzen und damit hohe Noten erreichen können oder umgekehrt, dass Sie entmutigt werden, wenn Sie eine Unterrichtseinheit mit der Note 1 beginnen und sich nur langsam hocharbeiten können. Egal welchen Weg man wählt, hier sollte die Motivation der Schüler:innen im Vordergrund stehen, aber gleichzeitig an hohe fachliche Ansprüche gekoppelt werden.
Diese Balance zwischen hohen Anforderungen und Machbarkeit ist aber anspruchsvoll. Das System ist schliesslich nur dann erfolgreich, wenn die Schüler:innen motiviert sind, auch die anspruchsvollen Projekte anzugehen und sich nicht einfach mit der Minimalanforderung für den 4er zufrieden zu geben. Das ist der Knackpunkt, bei dem ich am meisten gespannt bin: Werden sich die Schüler:innen darauf einlassen und bereit sein, mehr zu leisten, um höhere Kompetenzen zu erreichen?
Zu guter Letzt darf nicht unterschätzt werden, wie sich diese Lernumgebung auf mein Selbstverständnis und meine Rolle auswirkt. Ich habe zwar noch immer die Möglichkeit einen grossen Teil des Rahmens und der Abläufe zu kontrollieren und zu überwachen, doch wenn die Selbststeuerung der Schüler:innen im Zentrum steht, fahre ich oft besser, wenn ich mich zurückhalte und mich darauf konzentriere, wie ich sie bei diesem Unterfangen unterstützen und fördern kann. Der Fokus verlagert sich hier von einem Selektionsgedanken, hin zu einer Haltung, die so vielen Schüler:innen Lernerfolge ermöglicht. Dieses Umdenken ist nicht immer einfach. Es bedarf Geduld, Offenheit und einer bewussten Anpassung der eigenen Haltung, um diese neue Rolle erfolgreich zu übernehmen.
Trotz dieser Herausforderungen bietet SELF eine Lernumgebung, die das Potenzial hat, den traditionellen Unterricht in vielerlei Hinsicht zu bereichern. Wie wir gesehen haben, fördert es eine tiefere Auseinandersetzung mit dem Lernstoff und motiviert Schüler:innen, eigenverantwortlich und selbstbewusst zu lernen. Viele Fragen bleiben jedoch offen:
- Wie kann aus diesen Ideen und Ansätzen nun ein funktionierendes System gebaut werden?
- Wie kann ein Kompetenzraster aufgebaut werden, das gleichzeitig einen klaren Rahmen setzt, aber auch transparent darlegt, wie die Ziele zu erreichen sind?
- Wie kann die Beurteilung und Bewertung aufgegleist werden, dass sie hohen Ansprüchen gerecht werden und trotzdem motivierend wirken für die Schüler:innen?
- Wie kann eine Unterstützung und Feedback-Kultur aufgebaut werden, ohne dass ich überdurchschnittlich viele Ressourcen aufwenden muss, die den Rahmen das Machbaren sprengen?
Diesen und weiteren Fragen werde ich in diesem Schuljahr nachgehen und regelmässig darüber berichten.
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© Lukas Pfeifer, 2025